Arnspitze

Eigentlich wollten Kati und ich die Tour an diesem Wochenende gemeinsam unternehmen. Ich habe mich bereits die letzten zwei Wochen darauf gefreut. Aber gestern Abend merkte Kati, dass sie sich nicht gut fühlt und heute morgen entschied sie dann, mich allein gehen zu lassen. Ich habe mich dann dazu zwingen müssen trotzdem loszufahren. Aber ich kenne mich: Wäre ich auch zu Hause geblieben, ich hätte zwei Tage lang schlechte Laune gehabt. Also sitze ich jetzt in der Bahn und versuche mir einzureden, dass ich auch sonst häufig alleine unterwegs bin, ohne dass es mir etwas ausmacht. Ich richte mich langsam seelisch auf meine Solotour ein und stelle, bei dem Blick in den Wagon, erleichtert fest, dass ich keine anderen Wanderer in der Bahn sehen kann.

Die Bahn ist die Regionalbahn RB 5419 vom Münchener Hauptbahnhof in Richtung Seefeld, die ich um 11:32 nach Mittenwald genommen habe. Eigentlich ist es schon recht spät für eine Wanderung zur Arnspitze, aber ich habe nicht vor heute wieder ins Tal abzusteigen. Stattdessen werde ich in der kleinen Selbstversorgerhütte unterhalb des Gipfels schlafen. Ob ich heute oder erst morgen zum Gipfel kommen werde, weiß ich noch nicht, werde ich aber vom Wetter abhängig machen.

Die Arnspitze ist 2196m hoch und liegt zwischen Karwendel und Wettersteingebirge. Sie ist Teil eines Kamms, den man von Mittenwald nach Scharnitz überschreiten kann. Es gehören dann Riedkopf, Grosse Arnspitze, Mittlere Arnspitze, Hintere Arnspitze, Weisslehnkopf dazu. Ich kann es gleich vorweg nehmen, die Sicht war so schlecht, dass ich diesen Weg nicht gefunden habe.

In Mittenwald angekommen, steige ich aus dem Zug, gehe durch die Bahnhofshalle und halte mich links. Man muss den Ort jetzt einfach an der Hauptstrasse in Richtung Scharnitz verlassen. An dem Abzweiger nach Leutasch läuft man dann noch vorbei, um erst in die nächste Strasse nach rechts abzubiegen. Dem jetzt beginnenden Wirtschaftsweg folgt man eine ganze Weile. Links vom Weg fließt erst der Mühlbach und dann die Leutascher Ache, beides Zuflüsse der Isar. Irgendwann überquert man, auf Höhe des Ausgangs der Leutscher Geisterklamm, den Bach. Der Wanderweg zur Arnspitze zweigt dann, wenige Meter weiter, nach rechts ab und ist vorerst gut ausgeschildert.

Die Tautropfen glitzern in der Sonne.

Das Wetter ist heute eher verhalten. Bis jetzt hat sich die Sonne noch nicht ein einziges Mal gezeigt. Im Wetterbericht war von einer 6/8 Bewölkung die Rede, kam mir aber irgendwie komisch vor, kann man ja auf 3/4 kürzen. Aber egal, die Wolken hängen tief und man kann keinen der umliegenden Gipfel sehen. Als ich in den kleinen Wanderweg einbiege, bin ich schlagartig allein. Um die Geisterklamm herum und auf dem Forstweg, von dem der Weg nach etwa 15 Minuten abzweigt, waren noch einige Leute unterwegs. Spaziergänger mit Hunden, Familien mit kleinen Kindern und Senioren mit Hut und Stock. Alle fühlen sich genötigt mich, mit einem lauten Grüß Gott, zu grüßen. Mein Eindruck ist, dass die offensichtlichen Touristen immer am engagiertesten grüßen. Gehört wohl so zum Wandern dazu. Mich könnten sie dabei gerne ignorieren, aber ich erwidere den Gruß jedes Mal mit einem freundlichen Lächeln.

Ich bin den Weg, den ich gerade gehe, im vergangenen Winter schon mit meinem Kumpel Arne gegangen. Es lag damals gerade der erste Schnee und es war nicht einfach, den Weg zu finden. Heute ist es deutlich leichter, es liegt nur wenig Laub auf dem Weg, so dass man ihn gut erkennen kann. Die Blätter sind schon stark eingefärbt und es riecht nach Herbst. Als die Sonne einmal kurz durch die Wolken bricht, fotografiere ich einen großen Baumpilz, an dem einige Tropfen hängen und im Licht glitzern. Der Weg schlängelt sich immer weiter durch den Laubwald und ich bin froh, mich in den Zug gesetzt zu haben. An der Riedbergscharte steht eine kleine Hütte, die schon winterfest gemacht worden ist und verschlossen ist. Ich fülle meine Flaschen mit dem Wasser aus den Regentonnen auf. Auf der Karte habe ich gesehen, dass es keine weiteren Möglichkeiten mehr bis zur Arnspitze geben wird an Wasser zu kommen. Dann esse ich einen Riegel, setzte den Rucksack wieder auf und gehe weiter. Der Steig wird spürbar steiler, felsiger und ich erreiche bald darauf die Baumgrenze. Ab dem Riedkopf verläuft der Weg, bis zu den Achterköpfen, entlang des Grats, danach unterhalb, auf der östlichen Seite, durch ein Kar. Hier haben wir im letzten Winter viele Gämsen gesehen, heute sehe ich aber nichts. Etwa 15 Minuten später bin ich direkt unter der Hütte angekommen. Aus dem Schornstein steigt Rauch auf und verrät mir, dass ich die Hütte, heute Nacht, leider nicht für mich allein haben werde. Vor der Hütte stehen zwei Personen und rauchen.

Die Arnspitzhütte ist klein aber wahnsinnig gemütlich.

Die Arnspitzhütte ist recht klein, bietet aber Platz um bequem, mit etwa sechs Personen, um den Tisch herum sitzen zu können. Zum Schlafen dürfte es zu sechst allerdings sehr eng werden. Wir sind aber nur zu dritt, also passt es. Meine Mitbewohner heissen beide Marcel, kommen auch aus München und haben, wie der Rauch schon vermuten ließ, ein Feuer im Ofen angezündet. Auf dem Tisch stehen zwei Flaschen Bier und eine Packung Spaghetti. Auf dem Herd steht schon ein Topf mit Wasser. Ich habe bereits ziemlich großen Hunger. Das Nudelwasser will aber nicht zu kochen anfangen und ich habe keine Geduld darauf zu warten, dass die beiden Ihre Nudeln endlich gekocht haben. Also baue ich meinen eigenen Kocher auf und koche mir meine Erbsensuppe, Großmutters Geheimnis von Knorr, ohne den Holzofen. Dazu brate ich mir noch ein paar Scheiben Kaminwurz an und werfe sie in die Suppe. Als ich mit Essen fertig bin, warten die beiden "Marcellos" noch immer auf ihr Nudelwasser und fragen mich neidisch über den Kocher aus. Der kleine Mehrstoffbrenner ist von Edelrid und prinzipiell genau so konstruiert wie die Produkte von Primus, MSR und wem sonst noch. Der Brennstoff wir mit einer Pumpe in einer kleinen Aluflasche unter Druck gesetzt, so dass er durch die, am Brenner angeschlossene, Stahlflexleitung gepresst wird. Die Leitung führt dabei einmal durch die Flamme hindurch und erst dann zur Düse am Kocher. Das hat ein Vergasen des Treibstoffs zur Folge und bringt eine höhere Temperatur. Die Entscheidung für dieses Modell war damals eigentlich eine finanzielle, bereut habe ich den Kauf noch nie. In Schweden, Norwegen und auch Island hat er mich nie im Stich gelassen. Benzin ist an den abgelegensten Stellen zu bekommen und in Island hat man Kati und mir einmal eine halbvolle Gaskartusche geschenkt, als wir eigentlich Benzin kaufen wollten, Gas-Schraubkartuschen frisst der Kocher nämlich auch.

Das Licht aus der Hütte bricht sich im Nebel.

Eigentlich wollte ich gerne ein paar Nachtaufnahmen vom Sternenhimmel machen, daraus wird bei dem Wetter aber nichts. Trotzdem gehe ich nach dem Essen noch einmal vor die Hütte und versuche mich an ein paar Langzeitbelichtungen. Das Licht in der Hütte scheint durch die kleinen Fenster nach außen und man kann die Strahlen gut in der feucht-nebeligen Luft sehen. Es ist wirklich kalt, vermutlich fast 0°, und ich brauche meine Handschuhe. Die Entscheidung, beim Fotografieren Handschuhe zu tragen, ist aus meiner Sicht immer eine Pest/Cholera-Entscheidung: Mit Handschuhe kann man die Knöpfe und Rädchen schlecht bedienen, mit kalten Fingern aber leider auch.

Für die Nacht trage ich den thronartigen Stuhl aus der Hütte ins Freie und stelle ihn, damit er nicht nass wird, umgekehrt auf die Bank vor dem Haus. Er ist so groß, dass ich andernfalls keinen Platz für meine ThermaRest auf dem Fußboden hätte. Dann schlage ich mein Nachlager auf und schlafe wenig später ein. Leider haben beide Marcellos Konfirmandenblasen und steigen nachts noch ein paar Mal über mich hinweg. Sie verleben überhaupt eine unruhige Nacht, weil sie darauf verzichtet hatten sich Schlafsäcke mitzubringen und auf die Wolldecken, die in der Hütte bereit liegen, gebaut hatten. Wolldecken sind auch in ausreichendem Maße vorhanden, trotzdem ist die Wärmeleistung der Wolldecken nicht mit der eines Daunenschlafsacks vergleichbar. "Lernen durch Schmerz", sach ich mal.

Nach dem Frühstück, man sieht nach wie vor kaum die Hand vor Augen, verlasse ich die Hütte und mache mich zum Gipfel der Arnspitze auf. Ich kenne den Weg noch aus dem letzten Jahr, damals hat man auch kaum etwas gesehen. Vielleicht reißt es nachher ja noch etwas auf, denke ich, glaube aber eigentlich nicht daran. Der Weg ist ein steiler Steig, der links einer tiefen Rinne verläuft. Häufig muss man die Hände zur Hilfe nehmen, weil die Stufen recht hoch sind. Als ich um einen Felsen, der die Sicht in die Rinne verdeckt hatte, herumkomme, kann ich zwei Gämsen im Nebel sehen. Vorsichtig gehe ich wieder einen Schritt zurück, so dass sie mich nicht mehr sehen können. Ich lege meinen Rucksack ab und montiere mein Teleobjektiv an der Kamera. Dann krieche ich vorsichtig an die Kante eines Felsens, hinter dem ich mich auf den Bauch legen und die Kamera auflegen kann. In diesen Situationen halte ich immer die Luft an und das Herz fängt an fester zu schlagen. Ich bin aufgeregt und will nicht bemerkt werden. Wenn man sich ruhig verhält, lassen sich die Tiere meistens gut beobachten. Hektische Bewegungen sollte man vermeiden. Auch die Windrichtung spielt eine Rolle. Gegenwind ist gut, weil er den eigenen Geruch nicht zu den Tieren herüber weht. Hier habe ich aber keine Wahl. Als mich die beiden Tiere bemerken, entfernen sie sich ein paar Meter. Dann scheinen sie zu realisieren, dass ich von hier oben keine Gefahr bin, bleiben stehen und fangen wieder zu fressen an. Ich will ihr Frühstück nicht weiter stören und schleiche mich zurück zu meinem Rucksack.

Es war kalt heute Nacht, der Nebel friert an den Gräsern.

Den Gipfel erreiche ich wenig später. Die Aussicht ist gleich null. Den Panoramaaufsatz für das Stativ hätte ich zu Hause lassen können. Alternativ entdecke ich ein paar Gräser am Fels, an denen der Tau gefroren ist. Also disponiere ich um: heute kein Panorama, aber eine gute Gelegenheit um mein neues lichtstarkes 50mm Objektiv auszuprobieren. Licht gibts heute ja nicht viel.

Es soll die Möglichkeit einer Überschreitung der Armspitze geben, hab ich jedenfalls gelesen. Ich versuche den Weg zu finden, kann aber keine Markierungen entdecken. Ich wage mich ein ganzes Stück in Richtung Nordosten auf dem Schmalen Grat vor, aber bin mir unsicher, ob ich noch richtig bin. Ich entscheide mich, die Überschreitung zu verschieben. Also gehe ich den selben Weg, wie ich gekommen bin, zurück. Ganz zur Hütte muss ich nicht zurück, aber ich sehe sie auf dem kleine Hügel stehen und wie am Vorabend verrät der Rauch, der aus dem Schornstein aufsteigt, dass die Hütte nicht leer ist. Ich kehre ihr den Rücken zu und mache mich in Richtung Mittenwald auf.

In dem Kar, welches jetzt gleich wieder auf dem Weg liegt, erhoffe ich mir diesmal Gämsen. Ich weiß, dass es die ideale Umgebung für die Tiere ist und bewege mich leise und vorsichtig. Ich versuche ständig, weit vorne im Nebel, schon Umrisse zu sehen und horche auf Steinschlag. Lange muss ich nicht warten. Genau dort wo ich sie erwartet hatte, stehen fünf oder sechs Tiere. Parallel entlang der Rinne wächst ein Latschengürtel. Ich kann also, gut geschützt von den Latschen, weiter nach unten gelangen und mich dann vorsichtig durch die Latschen nähern. Der Nebel und der Wind aus dem Tal geben mir jetzt zusätzlich Schutz. Ich liege eine ganze Weile da und beobachte, wie die Gämsen fressen. Der Nebel zieht vorbei und immer wieder verliere ich sie fast aus den Augen, bevor sie dann wieder, aus den Schwaden heraus, auftauchen. Ich würde eigentlich gerne noch dichter heran, müsste dafür aber meine Deckung aufgeben. Also bleibe ich einfach noch eine Weile so liegen, bevor ich zurück krieche, meinen Rucksack hole und auf den Weg zurück kehre.

Der Weg durch den Laubwald bis zur Jagdhütte, an der ich gestern noch Wasser getankt hatte, hat sich über Nacht verändert. Durch den Frost sind viele Blätter abgefallen und ich laufe jetzt, über einen gelben, feuchten und rutschigen Teppich. Es sieht hübsch aus, aber die glatten Felsplatten werden unter dem Laub noch rutschiger. Ein paar Mal komme ich fast ins Straucheln. An der Weggabelung Leutasch-Mittenwald biege ich nach links ab. Erstens komme ich so gleich an einer Quelle vorbei, zweitens will ich mir die Leutascher-Geisterklamm ansehen, die das Leutaschtal mit Mittenwald verbindet. Unten im Tal angekommen laufe ich einen Kilometer an der Strasse entlang. Wahnsinn, wie mir der Lärm der Autos und der Motorräder mit einem Schlag auf den Geist geht. Warum muss man den Motor so aufheulen lassen? Ist mir absolut unklar. Am Parkplatz zur Geisterklamm grinst ein Mitfünziger Schnuppiträger aus einem 911er Cabrio in die iPhone-Kamera seines Kollegen. Der Kollege: gleiches Alter, gleich wenig Haare auf dem Kopf, dafür gleich viele Haare auf der Oberlippe. Dann tauschen sie die Plätze. Darf also jeder ein Foto von sich im Porsche haben. Ganz stark Jungs, aber nicht das Hamburger Kennzeichen mit drauf nehmen, sonst sieht man, dass die blöde Karre von Sixt kommt. Naja, jedem das seine. Ich gehe lieber schnell in die Klamm hinein. Die ist komplett mit einem breiten Metallsteg erschlossen. Man kann die ganze Zeit, hundert Meter über dem rauschenden Bach, entlang spazieren und nach unten schauen, sogar durch den Steg hindurch, da er komplett aus einem Gitterrost gebaut wurde. Für Leute mit Höhenangst ist das hier sicher nichts, gefährlich oder anspruchsvoll ist es aber nicht. Hätte man im Verlauf des Stegs einfach auch noch auf die wenigen Stufen verzichtet, wäre der Weg sogar barrierefrei gewesen. Hinter der großen Hängebrücke verlasse ich die Klamm in Richtung Mittenwald und komme dann, wenig später, auf den Wirtschaftsweg vom Vortag. Ich biege nach links ab und sitze 30 Minuten später bei Espresso und Zupfkuchen im Bahnhofscafé der Rösterei Wildkaffee. Normalerweise nehme ich mir hier immer ein Päckchen "Wilderer" mit, gerade habe ich aber noch einen ausreichend großen Vorrat zu Hause.

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